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Brief an die Eltern


Liebe Eltern,

seit ich von zu Hause weg im College bin, war ich, was das Briefe schreiben angeht, sehr nachlässig. Es tut mir leid, dass ich so unachtsam war und nicht schon viel früher geschrieben habe. Nun möchte ich Euch auf den neusten Stand bringen.

Aber bevor Ihr anfangt zu lesen, nehmt Euch bitte einen Stuhl. Bitte lest nicht weiter, bevor Ihr Euch gesetzt habt! Einverstanden?

Also, es geht mir inzwischen wieder einigermaßen gut. Der Schädelbruch und die Gehirnerschütterung, die ich mir zugezogen hatte, als ich aus dem Fenster des Wohnheims gesprungen bin, nachdem dort kurz nach meiner Ankunft ein Feuer ausgebrochen war, sind ziemlich ausgeheilt. Ich war nur drei Wochen im Krankenhaus und kann nun schon fast wieder normal sehen. Nur noch einmal am Tag habe ich diese wahnsinnigen Kopfschmerzen.
Glücklicherweise hat der Tankwart der Tankstelle in der Nähe das Feuer im Wohnheim und meinen Sprung aus dem Fenster gesehen und die Feuerwehr mit Krankenwagen gerufen. Er hat mich auch im Krankenhaus besucht – und da das Wohnheim abgebrannt war, und ich nicht wusste wo ich unterkommen sollte, hat er mir sogar angeboten, bei ihm zu wohnen.

Eigentlich ist es nur ein kleines, schmuckloses Zimmer im 1. Stock, aber irgendwie ist es doch auch recht gemütlich, trotz der tropfenden Heizung. Er ist übrigens ein sehr netter Junge und wir lieben uns sehr und haben auch vor zu heiraten. Wir wissen noch nicht genau wann, aber es muss wirklich schnell gehen, damit man nicht sieht, dass ich schwanger bin. Ja liebe Eltern, ich bin schwanger. Mir ist bewusst, wie sehr Ihr Euch freuen müsst, bald Großeltern zu werden. Und ich weiß natürlich, dass Ihr das Baby gern haben und ihm die gleiche Liebe, Zuneigung und Fürsorge zukommen lassen werdet, die Ihr mir als Kind gegeben habt. Es darf doch bei Euch wohnen, während ich mich aufs Lernen konzentriere?

Aber der Grund, warum wir nicht sofort heiraten können, ist, dass mein Freund an einer hoch ansteckenden und vermutlich auch tödlichen Krankheit leidet, daher ist es uns nicht möglich eine voreheliche Blutuntersuchung durchzuführen, denn auch ich habe mich bei ihm angesteckt. Ich bin mir aber sicher, dass Ihr ihn mit offenen Armen in unserer Familie aufnehmen werdet. Er ist nett und ehrgeizig, wenn auch nicht besonders gebildet. Auch wenn er eine andere Hautfarbe und Religion hat als wir, wird Euch das doch sicherlich nicht stören, tolerant und weltoffen, wie Ihr nun mal seid. Stört es Euch, wenn ich in Zukunft ein Kopftuch tragen muss?

Jetzt, da ich Euch das Neuste mitgeteilt habe, möchte ich Euch sagen, dass es im Wohnheim nicht gebrannt hat, ich keine Gehirnerschütterung oder Schädelbruch hatte, ich nicht im Krankenhaus war, nicht schwanger bin, nicht verlobt bin, mich nicht angesteckt habe und auch keinen Freund habe. Allerdings bekomme ich eine 6 in Geschichte und eine 5 in Chemie, und ich möchte, dass Ihr diese Noten in der richtigen Relation betrachtet!

Liebe Grüße,

Eure Tochter

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